Porträt
In der Erfolgsspur
Ihr erster Schuss fiel bei der Militärmeisterschaft in Lillehammer. Damals stand Kati Wilhelm noch ohne Gewehr auf dem Rücken auf den Langlaufski. „Am Tag vor dem Wettkampf habe ich trainiert und bin am Schießstand vorbeigekommen, als ich gefragt wurde, ob ich auch mal schießen will. Frank Ullrich hat es beobachtet und war ganz begeistert“, sagt sie.
Wie oft sie damals ins Schwarze getroffen hat, daran erinnert sich die 47-Jährige heute nicht mehr. Was dagegen im Gedächtnis der Sportwelt bleibt: Es sollten noch viele Treffer folgen. Kati Wilhelm ist dreifache Olympiasiegerin und fünffache Weltmeisterin, hat insgesamt 20 Medaillen bei Großveranstaltungen gesammelt und in der Wintersaison 2005/2006 den Gesamtweltcup gewonnen. Mehr als 100-mal stand sie in ihrer Karriere auf dem Podium.
Heute sind die Medaillen in ihrem Haus verstreut. „Zugegebenermaßen etwas stiefmütterlich. Ich habe keine Vitrine, in denen ich sie präsentiere. Ich weiß, was ich geleistet habe und muss sie nicht jeden Tag sehen“, sagt Kati Wilhelm. Ihr Erfolgsrezept? „Ich brauchte einen langen Atem. Der Weg war schon sehr steinig“, sagt die hochdekorierte Sportlerin heute. Sie habe früh eine gute Balance gefunden. „Ich bin wahnsinnig ehrgeizig und zielstrebig, habe die aktive Zeit aber auch genossen und nicht auf alles verzichtet.“
Anfänge in Steinbach-Hallenberg
Es war ihre vier Jahre ältere Schwester, die Kati Wilhelm zum Training in ihrer Heimatstadt Steinbach-Hallenberg, einem Wintersportort im Thüringer Wald, gebracht hat. Mit viel Spaß absolvierte sie die Einheiten im Verein, lernte die Grundlagen auf den dünnen Langlauf-Brettern kennen und stand bei verschiedenen Wettkämpfen an der Startlinie – und oft auch auf dem Podest. Noch zu DDR-Zeiten verwehrte eine krumme Wirbelsäule ihr den Sprung an die Oberhofer Kinder- und Jugendsportschule. Nach dem Mauerfall wurde sie dann aber an das Sportgymnasium berufen, in dem sie als Langläuferin ausgebildet wurde.
Nur drei Jahre nach dem Abitur – Kati Wilhelm war damals Teil der Sportfördergruppe der Bundeswehr – nahm sie als Langläuferin an ihren ersten Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano (Japan) teil und erreichte mit der Staffel einen fünften Platz. Ein Wechsel in das Biathlon-Lager kam ihr zu dieser Zeit noch nicht in den Sinn. „Bei einer Pressekonferenz hatte mich ein Journalist etwas provokativ danach gefragt. Meine Devise war damals aber, dass ich im Langlauf erfolgreich sein möchte und kann.“
Der Entschluss, doch zum Gewehr zu greifen, reifte erst nach der Nordischen Ski WM 1999 in Ramsau, als die deutsche Frauenstaffel Bronze gewann, Kati Wilhelm krankheitsbedingt aber nicht Teil des Teams war. „Ich war enttäuscht. Ich wollte unbedingt auch eine Medaille und habe dann die Entscheidung getroffen, doch noch einmal etwas Neues zu wagen.“
Klare Vision beim Wechsel ins Biathlon-Lager
Der Familienrat tagte, und wieder war ihre Schwester eine gute Ratgeberin. Den Segen holte sich Kati Wilhelm zudem bei ihrem ehemaligen Langlauftrainer Kurt Albrecht. „Er sagte damals zu mir: Wenn du in der Staffel aufgestellt wirst, hast du eine Medaille so gut wie sicher. Aber ich wollte ehrlich gesagt mehr. Eine Einzelmedaille war mein Ziel.“
Und wie sie ihre Ziele verfolgte! In ihrem ersten WM-Rennen als Biathletin gewann sie Gold im Sprint. Von den Olympischen Winterspielen in Salt Like City 2002 kehrte sie mit zwei Gold- und einer Silbermedaille nach Hause. Zu ihren persönlich größten Erfolgen zählt sie die Olympischen Winterspiele in Turin vier Jahre später, mit Gold in der Verfolgung und Silber im Massenstart und der Staffel. „Als Gesamtweltcupführende war ich Top-Favoritin. Dass ich die Leistungen auch bei Olympia auf dem Punkt abrufen konnte, macht mich schon stolz.“
Ein weiterer Karrierehöhepunkt war die WM im südkoreanischen Pyeongchang 2009, bei der sie zwei Gold- und zwei Silbermedaillen sammelte. Erstmals konnte sie auch im Einzel, ihrer Achillesferse, triumphieren. Es war der Lohn für mutige Schritte in der Vorbereitung. Kati Wilhelm hatte ihre Heimat verlassen und den Trainingsmittelpunkt nach Bayern verlegt, unterstützt von einem eigenen Trainerstab. Und sie hat ihre Lehren aus ihren Misserfolgen gezogen. „Ich hatte viele Weltmeisterschaften, bei denen es nicht so gut lief wie im Weltcup. Das tut weh, darauf kann man sich nicht vorbereiten. Aber daran wächst man.“
Boom des Biathlons-Sports
Nicht zuletzt dank Kati Wilhelm erlebte der Frauen-Biathlon in Deutschland einen Boom. Die TV-Quoten schossen in die Höhe, Millionen Zuschauer schalteten regelmäßig ein. Oberhof, Ruhpolding und Antholz wurden zu Biathlon-Hochburgen. Ein Autogramm der Thüringerin oder gar ein Foto mit ihr waren begehrt, die Anfragen für Fotoshootings, Sponsorentermine und Talks häuften sich. „Mir fiel es nicht schwer, in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich habe es genossen, gefragt zu sein und den Trubel ganz gut verkraftet. Wenn ein Fan ein Autogramm wollte, habe ich das als Anerkennung meiner sportlichen Leistung verstanden.“
Nach den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver entschied sie sich, ihre erfolgreiche Karriere zu beenden. Die Zeit nach der Karriere rief, wobei Biathlon sie weiterhin begleiten sollte. Allein schon durch ihren Lebensgefährten Andreas Emslander, der als Skitechniker arbeitete. 2005, beim vorolympischen Wettkampf, lernten sie sich kennen und lieben.
Nach dem Rücktritt gründeten sie eine Familie. Mit Tochter Lotta und Sohn Jakob lebt das Paar in Wilhelms Elternhaus in Steinbach-Hallenberg, meistern den neuen Alltag, treiben aber auch viel Sport und lieben das gemeinsame Reisen, zum Skifahren in den hohen Norden oder mit dem Camper nach Sardinien. „Jakob stand mit dem Schnuller auf dem Langlaufski. Ich zwinge sie zu nichts, aber ich möchte, dass sie sich für etwas begeistern können.“
Dem Sport treu geblieben
Die Thüringerin ist dem Sport treu geblieben. Zwölf Jahre lang arbeitete sie im „Das Erste“ als Biathlon-Expertin und erklärte dem Publikum die Leistungen ihrer Nachfolger. Daneben sind ihre Erfahrungen als Speakerin gefragt. „Nach über 25 Jahren kenne ich mich mit Erfolg, aber auch mit Niederlagen aus. Ich musste mich in meiner Karriere oft neu erfinden und neue Wege gehen.“
Aktuell absolviert Kati Wilhelm ihre Trainerausbildung, im Frühjahr steht die Prüfung für den Trainerschein an. Darüber hinaus begeistert sie vormittags als Bewegungscoach, ein Projekt des Landessportbunds Thüringen, den Nachwuchs in Kindergärten und Grundschulen für den Vereinssport. Die Nachmittage sind dem Training der jungen Sportlerinnen und Sportler in ihrem Heimatverein in Steinbach-Hallenberg gewidmet. „Ich möchte nicht nur darüber fachsimpeln, warum zu wenig Athleten nachkommen, sondern anpacken und die Potenziale ausschöpfen. Die Arbeit an der Basis erdet. Wer sieht, wie viele Aufgaben im Verein anfallen, kritisiert die Nachwuchsförderung nicht so leicht“, sagt sie.
Als Vize-Präsidentin des Thüringer Skiverbands hat sie die Wintersportvereine im Blick. Und seit zehn Jahren organisiert sie ihr selbst initiiertes Herzensprojekt, das Kati-Camp, bei dem die besten Nachwuchsbiathleten Deutschlands in Oberhof zusammenkommen, um gemeinsam mit ihr und den besten Coaches zu trainieren.
Einen klassischen 9-to-5-Job hat Kati Wilhelm, die Internationales Management studiert und bis Ende 2022 mit ihrem Restaurant „Heimatlon“ auch ein gastronomisches Standbein hatte, nicht. Trotzdem – oder gerade deswegen – ist ihr Kalender voll, sie ständig auf Achse. Zeit für das eigene Training bleibt da kaum. „Früher hatte ich immer ein ganz konkretes Ziel, aber der sportliche Anreiz ist nicht mehr da. Der innere Schweinehund ist auch bei mir sehr aktiv“, sagt sie und lacht.
Susann Eberlein, November 2023